Eine friedliche, wohlkoordinierte, verträumt anmutende
Kleinstadt, in der Ruhe und Ordnung vorherrschen: So präsentiert sich dem
Zuschauer Lumberton, der Schauplatz von David Lynchs Blue Velvet in der Anfangssequenz.
Jedoch ist das Bild der Kleinstadtidylle trügerisch. Unter der Oberfläche
dieses Protektion vermittelnden Bilderbuchstädtchens gärt es, die
Idylle wandelt sich, wird entlarvte Illusion. Die Bilder der heilen, fest in
sich verwurzelten Welt werden kontrastiert durch eine Kamerafahrt buchstäblich
unter die Oberfläche einer gepflegten Gartenanlage Lumbertons: eine Schar
schwarzer, aufgeregt durcheinander krabbelnder Käfer versinnbildlichen
den bedrohlichen Gegenpol, der - allgegenwärtig - jederzeit die Ordnung
und Moral ihrem Fundament zu entheben imstande ist.
Blue Velvet erzählt die Geschichte des jungen Mannes Jeffrey Beaumont (Kyle
MacLachlan), der heimkehrt, um das Geschäft seines erkrankten Vaters zu
unterstützen, sich (anfangs zufällig) in einen Entführungsfall
involviert und aus unterschiedlicher Motivation immer tiefer in einen Sog aus
destruktiver Gewalt und verbotener Sexualität gerät.
Der potentielle Zusammenbruch der Idylle und Ordnung, den die Anfangsmontage
andeutete, wird Realität, als Jeffrey auf einem Spaziergang ein abgeschnittenes,
menschliches Ohr findet, das er pflichtbewusst zur Polizei bringt. Jeffreys
Neugierde und seine Triebe lassen ihn gegen das polizeiliche Gebot handeln,
seinen mysteriösen Fund möglichst zu vergessen. Bezeichnenderweise
ist es gerade die Tochter des Inspektors, Sandy Williams (Laura Dern), die Jeffrey
aufgeschnappte Informationen über den Kriminalfall zukommen lässt
und ihm aus einer Mischung von Naivität, Zuneigung und Neugierde ihre Hilfe
anbietet, auf eigene Faust genaueres über die Umstände des Falls in
Erfahrung zu bringen.
Jeffrey verschafft sich in Schädlingsbekämpfungsmontur Zutritt zur
Wohnung der Frau, deren Name im Zusammenhang des Verbrechens gefallen ist, Dorothy
Vallens (Isabella Rossellini), eine Nachtclubsängerin. Er entwendet ihre
Wohnungsschlüssel in der Absicht, wiederzukommen, wenn sie außer
Haus ist. Die Szene, in der Jeffrey in Dorothys Wohnung eindringt, sich Zutritt
verschafft zu ihrer Privatssphäre, ist konstitutiv für den gesamten
Film, eine Schlüsselszene. Jeffreys Verhalten zeugt in diesem Moment von
einer nicht zu leugnenden Perfidität, ist abnorm und unterminiert den bisher
vordergründig vermittelten Eindruck des integren Collegejungen. Natürlich
wird Jeffreys Inspektion der fremden Wohnung von der Rückkehr Dorothys
jäh unterbrochen. Um nicht entdeckt zu werden, flüchtet sich Jeffrey
in ihren Kleiderschrank; er belauscht ein Telefonat Dorothys und beobachtet
sie, als sie sich auszieht. Dorothy entdeckt Jeffrey, bedroht ihn mit einem
Messer, bringt seine Identität in Erfahrung, zwingt ihn, sich zu entkleiden,
beginnt, ihn zu verführen. Unter Drohungen schickt Dorothy den völlig
verwirrten (und doch angetanen) Jeffrey zurück in ihren Kleiderschrank,
als sie durch die Ankunft Frank Booths (Dennis Hopper) unterbrochen werden.
Aus dem Dunkel des Schranks wird Jeffrey nun Zeuge der Vergewaltigung Dorothys
durch Frank. Franks Macht über Dorothy sind keine Grenzen gesetzt, da er
ihren Mann und ihren Sohn in seiner Gewalt hat. Franks triebhafte Gewalttätigkeit,
seine vulgäre Sprache und sein greinender Rollenwechsel vom fucking
daddy zum fucking baby schockieren den Voyeur im Schrank und
den Zuschauer gleichermaßen. Intensiviert wird die bedrohliche Unheimlichkeit
und verstörende Abartigkeit Franks in dieser Szene durch die Verwendung
mysteriöser Attribute (etwa einer Gasmaske) während des sadomasochistischen
Sexualaktes.
Jeffrey hat
sich selbst zum Detektiv erkoren, wenig professionell bedient er seine skopophilen
Triebe und ist bemüht, seine Neugier bezüglich des geschehenen Verbrechens
zu stillen. Jeffrey als Voyeur handelt nicht willentlich, eher scheint es so,
als dominiere ihn sein eigener Partialtrieb - der seines Blickes. Sandys Zweifel
I dont know if you are a detective or a pervert lässt
sich nicht eindeutig klären. Jeffrey nimmt selbstbestimmt die Rolle des
Detektivs ein, um seine perversen Neigungen ausleben zu können. Die von
Jeffrey beobachtete Vergewaltigungsszene lässt sich divergent deuten. Jeffrey
observiert den Beischlaf und gleichzeitig nimmt er partiell daran teil. Die
Kameraeinstellungen suggerieren eine Identifikation des Voyeurs Jeffrey sowohl
mit der leidenden (also passiven) Dorothy, als auch mit dem aktiv sadistischen
Frank. Das Korrelat der für Dorothys Unterwerfung empfundenen Empathie
seitens Jeffreys bildet das ihm als Spiegel dienende Mienenspiel Franks. Jeffreys
Blick wird zur Reduplikation des auf Dorothy gerichteten Blicks Franks. Jeffrey
und Frank stellen unter dieser Prämisse nicht zwei unvereinbare Gegenpole
dar. Obgleich Franks Persönlichkeitsstruktur Jeffreys massiven Widerwillen
und Verzweiflung verursacht, dient sie ihm doch zur Partizipation. Frank verkörpert
in gewisser Weise auch ein Ich-Ideal Jeffreys, gleich der Lacan'schen Spiegelstufe,
also jener Konstituierungsphase des menschlichen Subjekts, innerhalb derer ein
Kind, das sich noch in einem Zustand der Ohnmacht und der kaum koordinierbaren
Motorik befindet, imaginär das Ergreifen und das Beherrschen der Einheit
seines Körpers antizipiert. Jeffrey, der auf sexuellem Gebiet noch recht
unerfahren wirkt, wird seine Unfertigkeit im Gegensatz zu Franks
handlungsbestimmender Machtposition vor Augen geführt; sein Blick aus dem
Schrank gleicht dem Blick des Kindes, das in den Spiegel sieht und sich mit
dem vollkommeneren Ideal zu identifizieren beginnt. Zusätzlich verbindet
die Frau die beiden Männer: Sowohl Franks als auch Jeffreys Objekt der
Begierde ist Dorothy Vallens.
Frank Booth besitzt eine äußerst ambivalente Persönlichkeitskonstitution.
Er ist einerseits das personifizierte Böse, welches die friedliche Ordnung
der Kleinstadtidylle latent zu zerstören droht und zusätzlich die
etablierte Funktion der Sozialstruktur »Familie« vernichtet. Gleichzeitig
trägt er verletzliche Züge, wirkt zeitweilig beinahe hilflos und verloren
im Irrsinn seiner psychopathischen Existenz. Sein vom Wort fuck
durchsetzter vulgärer Wortschatz und seine grotesk vollführten Beischlafbewegungen
nähren die Vermutung seiner Impotenz. Die von ihm als Drohung formulierte
Prophezeiung I'll fuck everything that moves!, die an zukünftige
Exekutionen denken lässt, wirkt unter dieser Hypothese weitgehend absurd.
Während des sexuellen Gewaltaktes, den Frank an Dorothy vollzieht, nimmt
er einen steten Rollenwechsel vor: Er ist abwechselnd Daddy, Sir,
Baby und Frank. Sein Identitätswechsel geht einher
mit einer jeweiligen Wesensveränderung, deren Spektrum ein unterwürfiges,
mit weinerlicher Stimme ausgestattetes Baby wie einen brutalen,
demütigenden, sich Dorothy unterwerfenden Daddy einschließt.
Er bettelt Baby wants to fuck, fordert Get ready to fuck
oder maßregelt Don't you fuckin' look at me. Die männliche
Herrschaft und Kontrolle der sexuellen Gewaltszene oktroyiert Dorothy einen
weiblich leidenden Objektstatus auf. Es korrespondieren männlich aktiver
Sadismus und weiblich passiver Masochismus. Die Bilder, die die Kamera zeichnet,
zeugen von empfundener Lust auf der Seite des Opfers; diese Lust kann in Anlehnung
an das sogenannte Stockholm-Syndrom gedeutet werden, das eine enge
Bindung zwischen Tätern und Opfern entstehen lässt. Dorothys masochistische
Neigung bereitet ihr - in ihrer Objektrolle - insgesamt sexuelle Befriedigung.
Das Ausleben ihrer Veranlagung verschafft ihr einerseits sexuelle Stimulation,
andererseits ist sie in einem gewissen Grad sogar in der Lage, Frank ihrerseits
zu kontrollieren und ein wenig Macht über ihn auszuüben. Jeffrey gegenüber
hat Dorothy zeitweise die männlich handlungstragende Dominanzposition inne.
Sie macht Jeffrey zum Objekt ihres Verlangens, die Kastrationsdrohung gestaltet
sie offenkundig in Form des auf ihn gerichteten Messers und beherrscht in verbal
auf die von Frank praktizierte Art: Sie verbietet ihm den Blick. Jeffreys Interesse
an Dorothy ist eine Mischung aus Faszination am Verbotenen, sexuellem Verlangen
und Furcht. Die Beziehung von Jeffrey und Dorothy könnte als präödipale
Mutter-Kind-Dyade gesehen werden, die zerstört wird durch das Erscheinen
Franks. Jeffrey muss Dorothy als Lustobjekt und sexuelle Sklavin Franks erkennen
und dennoch strebt er die eigene Vereinigung mit ihr an, wandelt sie zu seinem
eigenen Fetisch und baut so seine Furcht vor ihr, seine Furcht vor dem Weiblichen,
ab. Dorothys Beziehung zu Jeffrey ist vielschichtig. Auch ihm gegenüber
nimmt sie eine Objektrolle ein, möchte von ihm begehrt werden und bittet
ihn, sie zu schlagen.
Blue Velvet geht über die Konstitution bloßer Polaritäten hinaus,
eindeutige Geschlechtsstereotype lassen sich eher nicht ausmachen. Zwischen
den Schenkeln des Dreiecks präsentieren sich dem Zuschauer äußerst
divergente Beziehungsvariationen. In unserer Kultur klar umrissene Geschlechterdifferenzen,
das Annehmen spezifisch männlich oder weiblich definierter Geschlechtsrollen
findet man bei Protagonisten wie Antagonist in positiver und negativer Ausgestaltung
im permanenten Identitätswechsel jedes einzelnen. Die Strukturen weiblicher
und männlicher Geschlechterrollen greifen in komplexer Interdependenz ineinander.
Sexuelle Lust resultiert aus verschiedenartig gestalteten (männlichen)
Dominanz- und (weiblichen) Unterwerfungsmechanismen in der Dreiecksbeziehung
Frank - Dorothy - Jeffrey. Ödipale Strukturen und Prozesse sind in Blue
Velvet wirksam. Das Kind erhascht einen Einblick in die Sexualität seiner
Eltern bzw. der Erwachsenenwelt generell. Frank verkörpert nicht lediglich
Jeffreys Komplement; stärker die positive Form des Ödipuskomplexes
und schwächer die negative Ausprägung koexistieren in einer dialektischen
Beziehung innerhalb Blue Velvets. Permanente Rollen- und Identitätswechsel
gestalten die ödipalen Strukturen sehr komplex; (so ist Jeffrey nicht lediglich
geprägt von einer ambivalenten Einstellung zum Vater und zärtlicher
Objektwahl der Mutter). Jeffreys Urphantasien sind verantwortlich
für sein Vorgehen; sie stellen die Varianten der Dreieckssituation dar
(so etwa Verführung, Urszene, Kastration). Innerhalb der Dreieckssituation
wird die Konstituierung des Ödipuskomplexes einerseits determiniert durch
das Subjekt Jeffrey und dessen Triebe, andererseits spielen solche Komponenten
der Beziehung eine Rolle wie der unbewusste Wunsch nach einem Elternteil, die
Verlockung einer Verführung sowie die Beziehung zwischen den Eltern.
Sowohl Dorothy als auch Frank üben einen nachhaltigen Einfluss auf Jeffreys
Persönlichkeitsentwicklung aus. Die Erlebnisse mit ihnen werden Jeffrey
stets begleiten, es gibt für ihn kein Zurück in eine unschuldige,
unwissende Welt, die es vor dem Erscheinen der beiden gegeben hat. Personen
wie Frank Booth existieren überall, die Exekution speziell seiner Person
durch Jeffrey wie in der Ödipussage stellt die Ordnung der ohnehin illusionären
Idylle nur scheinbar wieder her. Die Käfer aus der Anfangssequenz werden
nicht mehr in den Untergrund zurückkehren.
[mmm]