Ein Alptraum aus Sex, Gewalt und Beethoven - der Roman,
der Stanley Kubrick zum Film des Jahrzehnts inspirierte!"
"Der Versuch, dem Menschen, einer mit Vernunft begabten und liebesfähigen
Kreatur, die ihr hohes Ebenbild in Gottes bärtig-ernstem Angesicht findet,
der Versuch, sage ich, diesem Menschen Gesetze und Bedingungen aufzuerlegen,
die in einer mechanischen Schöpfung angemessen sein mögen, gegen diese
erhebe ich das Schwert meiner Feder."
Diese Zeilen las Alex bei einem Überfall und wusste noch nicht, dass er
eines Tages auch Opfer dieser Therapie sein würde.
Die Fabel: Alex ist 17 Jahre alt und seine Lieblingsbeschäftigungen sind
Überfälle, bei denen er und seine Droogs wehrlose Menschen quälen,
Vergewaltigung und klassische Musik, insbesondere Beethovens 9. Sinfonie, die
ihn zu all den Verbrechen inspiriert. Jeden Abend zieht er mit seinen Droogs
herum und "vergnügt" sich, bis er eines Tages von ihnen verraten
und von der Polizei gefangen genommen wird. Er wird wegen Mordes an seinem letzten
Opfer zu 14 Jahren Haft verurteilt. Zwei Jahre später hat er sich beim
Knastpfarrer beliebt gemacht und gibt sich äußerlich
wie ein neuer Mensch. Doch in ihm brennt noch immer das Verlangen nach Gewalt.
Alex wird ausgesucht, an einem Experiment teilzunehmen - eine neue Methode Verbrecher
zu heilen. Er ist einverstanden, weil er mit Hilfe dieser sog. "Ludovico-Therapie"
in nur zwei Wochen frei sein wird.
Doch diese Therapie ist wie ein Alptraum. Ihm wird ein Serum injiziert, durch
das er sich beim Anblick von Gewalt übergeben muss. Dazu muss er sich jeden
Tag im Kino horrorshowmäßige Filme ansehen, die Aufnahmen
von Gewaltverbrechen in schonungsloser Detailgetreue zeigen. Er übersteht
die Therapie, doch als er frei kommt, ist er hilflos und unterwürfig wie
ein Tier - "eine Orange mit einem Uhrwerk". Er wird Opfer seiner Eltern,
seiner früheren Opfer und selbst der Polizei. Als er keinen Ausweg mehr
sieht, versucht er sich umzubringen.
Seine Geschichte wird öffentlich, die Regierung versucht ihr Gesicht zu
wahren und Alex wird einer Operation unterzogen. Als er aus der Narkose erwacht,
verspürt er endlich wieder das alte Verlangen nach Gewalt: "Ich war
geheilt, kein Zweifel.", endet der Film.
Doch im Roman folgt noch ein weiteres Kapitel, in dem Alex rechtzeitig erkennt,
dass Gewalt nicht alles ist und dass man auch durch andere Dinge glücklich
werden kann. Er verspürt plötzlich ein ganz anderes Verlangen - das
nach einer Familie. Diese Perspektive schien Stanley Kubrick nicht zu interessieren.
Er adaptiert das konstruierte Ende der Geschichte nicht, sondern
konzentriert sich eher auf die Frage der Verhältnismäßigkeit
zwischen Gewaltverbrechen und staatlicher Sanktion. Das Setting wählt er
dabei bewusst utopisch, um die Fabel als archetypisch zu markieren.
Buch und Film spielen in einer nicht allzu fernen Zukunft. Eine Dystopie - die
Situation existiert nicht wirklich, doch andererseits wäre sie denkbar,
denn der Film ist auch keineswegs ein irrealer Science Fiction.
Es findet sich nicht der geringste technische Fortschritt. Trotzdem ist alles
ein wenig anders - ein verdrecktes London mit merkwürdiger Architektur
und Inneneinrichtungen, die von zeitlos schlechtem Geschmack zeugen, aber auf
der anderen Seite sehen die Räume und auch die meisten Kostüme aus,
als wären sie aus den 70ern.
Völlig abstrakt und strange hat Kubrick die Korova Milchbar
dargestellt, in der die Jungen sich vor und nach ihren Überfällen
treffen. Alles ist weiß und mit weiblichen Skulpture dekoriert; deren
Brüste die "Milch-Plus" spenden. In dieses Ambiente passen Alex
und seine Droogs - in weißen "Anzügen", die ein wenig an
die Kleidung von Baseballspielern erinnern. Wie auch immer: DieAusstattung in
Uhrwerk Orange erweckt fast 30 Jahre später immer noch den Eindruck zeitlos
futuristisch und keineswegs altmodisch zu sein.
Die Darstellung von Sex und Gewalt erschüttert den Zuschauer noch immer
in erschreckender Weise. Doch in Burgess Roman ist alles noch ein wenig
extremer und brutaler; das erscheint jedenfalls so, weil er die
Gewalttaten und später die Filme, die Alex sieht, bis ins Detail beschreibt.
Beide, Burgess und Kubrick, stellen den wichtigsten Aspekt des Stoffes jedoch
deutlich heraus: Dass niemand das Recht hat, einer anderen Person seine Würde
und Selbstachtung zu nehmen, selbst dann nicht, wenn es sich um einen Schwerverbrecher
wie Alex handelt. Alle, die ihn für ihre Zwecke missbrauchen, handeln damit
ebenso unmoralisch wie dieser selbst. Die Ärzte wollen Lob und Anerkennung
für die Erfindung ihrer Therapie. Der Innenminister missbraucht ihn skrupellos
für populistische Zwecke (gleich zweimal) und wieder andere versuchen ihn
gegen die Regierung auszunutzen. So wird Alex zum Spielball der Macht.
Buch und Film sind Meisterwerke. Kubrick hat das beste aus dem Stoff gemacht.
Obwohl (oder weil?) er der Vorlage nicht detailgenau gefolgt ist.
[JF]