Die Kamera fährt langsam auf einen Baum am Horizont zu.
Fast unmerklich nähert sie sich ihm. Wir hören einen Mann sprechen,
der seinem Sohn eine Parabel erzählt. Der Sohn schweigt. Er ist stumm.
Zunächst erkennen wir die beiden kaum. Als sich die Kamera dem Geschehen
noch weiter genähert hat, bemerken wir, dass Vater und Sohn einen verdorrten
Baum ganz in der Nähe des Meeres eingepflanzt haben.
Die Plansequenz ist an dieser Stelle erst zur Hälfte vorbei. Fast eine
viertel Stunde beobachten wir - in nahezu ehrfürchtig schleichender Annäherung
- die beiden und dann einen Postboten, der auf einem Fahrrad zu ihnen stößt.
Unser Blick verfolgt nun alle drei Protagonisten und nähert sich ihnen
dabei noch weiter an. Erst als sich die drei wieder trennen ist die Fahrt aus
der Totale in die Nahaufnahme beendet, und der erste Schnitt beschließt
die Exposition zu Andrej Tarkovskis Opfer (1985).
Ins Bild gesetzt wurde die sakraleske Geschichte eines Mannes, der durch ein
persönliches Opfer und seinen Glauben die Welt zu retten hofft, vom schwedischen
Kameramann Sven Nykvist. Seine Leistung wurde 1986 in Cannes mit der Goldene
Palme ausgezeichnet und für einen Oskar nominiert. Der 1922 geborene Nykvist
hat sich einen Namen gemacht bei der Mitarbeit an den meisten Ingmar-Bergman-Filmen.
Für Fanny und Alexander (1983) erhielt er den Oskar.
Eine der überragenden
Leistungen Nykvists unter Bergman ist die Kameraarbeit zu dem 1968 entstandenen
Psychodrama Die Stunde des Wolfs. Auf einer Insel lebt ein von Liv Ullman und
Max von Sydow gespieltes Ehepaar. Johann, so der Name des Mannes, ist Kunstmaler.
Er ist häufig krank und wird von Phantomen und Halluzinationen geplagt.
Geschichten und Skandale aus seiner Vergangenheit, von denen seine Frau nicht
weiß, verfolgen ihn im Traum und Wachzustand. Er glaubt, dass die schrecklichen
Figuren seiner Bilder auf der anderen Seite der Insel leben - als aristokratisch
gelangweilte Gesellschaft, die nur ein Ziel hat: ihn zu vernichten. Nach und
nach entdeckt seine Frau Alma Fragmente seiner Vergangenheit und seines beginnenden
Wahnsinns. Es gelingt ihr jedoch nicht, sich ihnen zu entziehen und so wird
sie fast selbst ein Opfer von Johanns Phantomen.
Die Geschichte mutet paradox an: Sind es nun reine Halluzinationen, die das
Ehepaar erlebt und sind die beiden daher durch nichts weiter als den Wahnsinn
gefährdet? Oder sind die Figuren, die Johann und Alma auf der Insel begegnen,
wirklich, und werden nur mit den Schemengestalten aus Johanns Einbildung assoziiert?
Dass diese Frage nicht eindeutig geklärt werden kann und wir letzten Endes
die realen und surrealen Elemente des Films nicht trennen können, liegt
zum wesentlichen Teil an Nykvists Bildern. Die meisten Einstellungen spielen
im Halbdunkel. Scharfe Schatten zerreißen die Gesichtskonturen der Protagonisten
und deuten so den Wahn vorraus. Nacherzählungen Johanns werden in solarisierten
und überbelichteten Bildern präsentiert; für den Zuschauer real
inszenierte Szenen werden durch assoziierte Elemente Johanns aufgebrochen: So
wird etwa das Gesicht eines der Schlossbewohner, den Johann als den "Vogelmann"
bezeichnet, mit sekundenkurzen Einstellungen eines Raben zusammenmontiert.
Die Kargheit des Settings wird durch das Fehlen fast jeglicher Geräusche
unterstützt und es erscheint tatsächlich so, als würden Nykvists
Bilder sich dem Rhythmus des Schweigens anpassen: Die Handlung wird von Minute
zu Minute dunkler, unklarer, unangenehmer, proportional zur wachsenden Stille.
Den selben Einfluss auf die Athmosphäre des Filmes durch die Bilder kann
man Sven Nykvist für seine Arbeit in Roman Polanskis Der Mieter (1976)
zuschreiben. Der wohl düsterste Film Polanskis reißt den Zuschauer
hinab in einen Strudel von Paranoia und Klaustrophobie - beides psychische Zustände,
die, um im Film angemessen vermittelt werden zu können, eindringlicher
Bildästhetik bedürfen. Meisterhaft schafft es Nykvist auch hier, die
Enge und Dunkelheit der Mietwohnung, den Hass und die Schmähungen der Nachbarn
zu dokumentieren, die den Jungen Trelkovski (von Roman Polanski selbst gespielt)
schließlich in den Selbstmord treiben.
Nykvist hat aber nicht nur in Europa gearbeitet. Bei zahlreichen (z. T. recht
mittelmäßigen) amerikanischen Produktionen hat er mit seiner Kameraarbeit
den Plot ergänzt: Schlaflos in Seattle (1993) von Nora Ephron oder Das
Schlangenei (1978) als einziges Exilwerk Bergmans bestechen fast ausschließlich
durch ihre Bilder. Interessanter sind da schon die Zusammenarbeiten mit Woody
Allen. Allen, der aus seiner Verehrung für Bergman nie einen Hehl gemacht
hat, konnte Sven Nykvist bislang fünf Mal unter Vertrag nehmen: 1988 für
Eine andere Frau, 1989 für Verbrechen und andere Kleinigkeiten sowie für
seine Episode Oedipus Wrecks in New York Stories und ebenfalls bei seinem bislang
letzten Film Celebrity stand Nykvist wieder für ihn hinter der Kamera.
Die Zusammenarbeit Nykvists mit Woody Allen in Celebrity zeigt, dass der mittlerweile
77-jährige Kameramann noch nichts von seiner unter Ingmar Bergman entwickelten
Fähigkeit, bereits gefrorene seelische Zustände in den Bildern noch
weiter abzukühlen, verloren hat. Es bleibt zu hoffen, dass Sven Nykvist
dem Film noch möglichst lange Zeit erhalten bleibt. Der Blick, den wir
durch sein Kameraauge gewinnen, flieht selbst Szenen absoluten Niedergangs niemals.
Vielmehr verschafft er uns - wie in den Schlusseinstellungen aus Tarkovskis
Opfer, als Alexander in eine Nervenheilanstalt eingeliefert werden soll - den
notwendigen Überblick über die menschlichen Katastrophen, die fiktionales
Kino benötigt, um zum reflektierbaren Erlebnis zu werden.
[Stefan Höltgen]