Tommy Lee Jones wird in Natural Born Killers (USA 1994) enthauptet.
James Stewart beobachtet in Das Fenster zum Hof (USA 1953) ein Mädchen
im schwarzen Slip. Marlon Brando praktiziert mit Maria Schneider in Der letzte
Tango in Paris (I 1972) Analverkehr. Kann sich jemand an diese Filmmomente erinnern?
Wohl kaum. Denn diese Szenen fielen der Zensur zum Opfer. Wenn eine Szene den
Sittenwächtern zu scharf erscheint, greifen sie zur Schere, ohne dabei
auf den künstlerischen Wert des Films zu achten. Häufigste Gründe
zu schneiden: Sex. Ich schneide alles heraus, wovon ich eine Erektion
bekomme!, beichtete einst ein US-Zensor. Es ist kaum zu glauben, dass
das Wort Fuck erstmalig 1967 in einem Film verwendet wurde.
Die Geschichte der Zensur reicht bis in die 10er Jahre zurück. Stummfilmregisseur
D.W. Griffith schockierte in Intolerance (USA 1916) mit wilden Orgien im alten
Babylon. Im privaten Leben verhielten sich die Hollywood-Stars nicht besser.
Der Komiker Fatty Arbuckle vergewaltigte 1921 die Schauspielerin Virginia Rappe
zu Tode. Gründe wurden in den unmoralischen verdorbenen Filmen aus jener
Zeit gesucht. Und William H. Hays, US-Generalpostmeister, konnte seine Selbstzensur-Behörde
gründen: das Hays-Office. Als Sittenwächter erfüllt die Zensur
jedoch nicht ihren Zweck. Es ist fraglich, ob jemand aufgrund von sittenlosen
Filmen verdorben wird, tötet oder vergewaltigt (vgl. frame25, Ausgabe 3/99).
Umgekehrt ist es genauso unwahrscheinlich, dass ein moralisch verdorbener Mensch
sich einen anständigen Film anschaut und über sein eigenes
Handeln nachdenkt. Filme beeinflussen das menschliche Verhalten kaum. Ist jemand
prüde, schaut er sich keinen Sexfilm an. Möchte jemand töten,
braucht er dazu keinen gewalttätigen Film.
Der Drehbuchautor
Ben Hecht äußerte sich über die Folgen der Zensur für das
amerikanische Kino: Zwei Generationen von Amerikanern wurden Abend für
Abend darüber informiert, dass eine Frau, die ihren Mann betrügt,
nie glücklich werden kann; dass Sex ohne Schwiegermutter und einen Gummibaum
in der Nähe keinen Spaß macht; dass Frauen, die zu ihrem Vergnügen
wechselnden Geschlechtsverkehr betreiben, als Huren oder Waschfrauen enden;
dass jeder junge Mann, der sich in seiner Jugend sexuellen Vergnügungen
hingibt, später das Mädchen, dass er wirklich liebt, nicht bekommt;
dass ein Mann, der hart mit seinen Ellbogen kämpft, um voranzukommen, im
Elend endet und dass sich selbst seine Kinder von ihm abwenden; dass ein Mann,
der die Gesetze bricht, seien es die der Menschen oder die Gottes, stets sterben
muss oder im Gefängnis landet oder Mönch wird oder das Geld, das er
gestohlen hat, zurückgibt, bevor er in die Wüste geht ...
Das Hays-Office hatte nur einen Nutzen: Es spornte die Regisseure zu kreativen
Höchstleistungen an, die Zensur filmisch zu umgehen. Sex durfte sich nur
im Kopf abspielen, nicht auf der Leinwand. Beispiel Kuss: Mann und Frau durften
sich nur für wenige Sekunden küssen. In Notorious (USA 1946) küsst
sich das Paar Cary Grant und Ingrid Bergman minutenlang. Regisseur Alfred Hitchcock
wandte einen einfachen Trick an: Die beiden Protagonisten küssten sich
nicht die ganze Zeit. Zwischendurch hörten sie immer wieder einmal auf
und unterhielten sich über belanglose Dinge, hielten sich dabei aber weiter
eng umschlungen. Der Eindruck eines langen Kusses bleibt.
Der Meister der versteckten Anspielungen ist zweifellos Billy Wilder (geb. 1907).
Die meisten Filme des gebürtigen Österreichers waren oft gewagte Seiltänze
über dem moralischen Abgrund: Das Heldenpaar in Double Indemnity (USA 1944)
mordet aus purer Gier und ehebrecherischer Lust, in Lost Weekend (USA 1945)
ist der Held ein Alkoholiker und in The Apartment (USA 1960) wird verbotene
Liebe am Nachmittag praktiziert.
Eines seiner bekanntesten Werke ist The Seven Year Itch (USA 1955) mit Marilyn
Monroe in der Hauptrolle. Der Film bedeutete einen Angriff auf die Prüderie
der 50er Jahre. Fast jeder Mann wollte laut einer damaligen Umfrage mit Marylin
Monroe schlafen. Doch keiner getraute sich, es offen auszusprechen. Genau da
setzt die Filmhandlung ein: Der New Yorker Verleger Richard Shermann schickt
seine Frau und seinen Sohn in den Urlaub aufs Land. Für kurze Zeit darf
er das Leben eines Junggesellen führen, ohne dabei fremdzugehen. Doch leider
hat er eine neue Nachbarin bekommen: eben Marilyn Monroe. Nun denkt Shermann
nur noch an das eine, was im Film natürlich nicht ausgesprochen werden
darf. Es kommt daher auch nicht zum Ehebruch.
Wilder benutzte verschiedene Stilmittel, um der Zensur zu entkommen. Der Film
wird von einem Sprecher aus dem Off eingeleitet. Die Filmbilder und der Kommentar
gehören nicht immer zusammen. Für das Hays-Office jedenfalls nicht.
Der phantasievolle Zuschauer versteht die Zusammenhänge. Die Indianerfrauen
(der Film spielt in den ersten Minuten im 15. Jahrhundert) fahren flussaufwärts
mit ihren Booten davon. Die zurückgebliebenen Männer laufen alle einer
blutjungen, alleinstehenden Indianerin hinterher. Der Sprecher dazu: Nachdem
die Frauen weg sind, können die Männer ihren Geschäften wieder
nachgehen, dem Fallenstellen, Fischen und Jagen. Mehr muss auch nicht
gesagt werden. Diese Szene wiederholt sich 500 Jahre später auf dem New
Yorker Bahnhof. Neben Richard Shermann verabschieden unzählige andere Ehemänner
ihre Frauen, um ihren Geschäften nachzugehen.
Die Männer dieses Films sind allesamt triebgesteuert. Selbst
Shermanns Hausmeister freut sich auf die Abreise seiner Frau. Shermann personifiziert
dabei anfangs noch den aufrechten, treuen Ehemann. Er möchte keinesfalls
von der üblichen Bahn eines normalen bürgerlichen Lebens abweichen.
Er versucht, nicht zu rauchen und nicht zu trinken. Er schaut keinen Frauen
hinterher. Wilder bringt seine Filmfigur dabei häufig in moralische Dilemmas.
Überall lauert der Sex. Daraus entsteht zunächst die Komik des Films.
Dem Zuschauer ist von Anfang an klar, dass Shermann irgendwann schwach wird.
Er kann dem Sex nicht entfliehen. Die Kellnerin bedankt sich für das von
Shermann gegebene Trinkgeld: Danke. Das kann ich für meinen Nacktheitsklub
verwenden. Denn Nacktkultur ist eine ethische Forderung. Kleider sind des Menschen
Feind .... Das Buch, welches Shermann liest, trägt den Titel Das
unterdrückte Verlangen des Mannes. Um welches Verlangen es sich handelt,
bleibt offen.
Wilder untergräbt in seinem Film die Institution Ehe. Der Ehering verhindert,
dass Shermann sein Ziel erreicht und die Monroe bekommt. In einer Szene macht
sich Shermann über den Ehealltag lustig und äfft seine Frau nach (Wie
war die Arbeit, Liebling?). Dabei ist seine Frau wie jede andere Ehefrau,
besorgt um ihren Mann.
In The Seven Year Itch gibt es dann auch nur zwei Frauenbilder: die etwas älteren
langweiligen Ehefrauen und die alleinstehenden jungen Mädchen, eine davon
verkörpert durch Marylin Monroe. Sie hat im Film nicht einmal einen Namen;
der würde auch keine Rolle spielen. Sie ist einfach nur naiv und dumm,
hat dafür aber einen attraktiven Körper. (Dieses Image haftete Marilyn
Monroe jahrelang an.) Shermann nimmt sie keine Minute als eigenständigen
Charakter ernst. Er versucht, sie mit klassischer Musik zu verführen, was
ihm nicht gelingt.
Schließlich bleibt er bei seiner Frau und träumt weiter von anderen
Frauen. Richard Shermanns Tagträume sind ein weiteres Mittel Wilders, Sex
auf der Leinwand darzustellen. Der Regisseur hat diese Szenen (einmal z. B.
versucht eine Krankenschwester, Shermann zu verführen) so übertrieben
inszeniert, dass sie unrealistisch wirken und daher nicht ernst zu nehmen sind.
Auffällig ist die von Wilder verwendete Phallus-Symbolik in The Seven Year
Itch: Die U-Bahn, die den Rock der Monroe hochhebt, das Kinderpaddel, das Shermann
bedeutungsvoll schwingt und das Öffnen einer Sektflasche. Wilder musste
diese Mittel einsetzen. Hätte er nur die Haarnadel einer Frau in einem
Bett gezeigt, wäre die gesamte Szene entfernt worden. Heutzutage unvorstellbar,
wenn Sharon Stone in Basic Instinct (USA 1992) ohne Slip auf dem Polizeirevier
sitzt und der Zuschauer das für Sekundenbruchteile auch noch sehen darf.
So ist das Kino heute freizügiger geworden und ist nicht mehr darauf angewiesen,
erotische Szenen derart zu verschlüsseln. Ein Gewinn für die Liberalität
- ein Verlust für die doppeldeutigen Anspielungen.
[RH]