Nachtgestalten
Alle Erwartungen werden vorhersehbar und klischeehaft erfüllt: Ein Mann
vom Lande kommt nach Berlin, um sich mit Geld die Liebe zu erkaufen. Ein drogenabhängiges,
fast noch minderjähriges Strichmädchen durchlebt mit ihm eine Nacht.
Er romantisch und sentimental, sie will sein Geld für den nächsten
Schuss. In der Junkiehöhle angekommen, versucht er vergeblich, sie von
der Spritze fernzuhalten, um am nächsten Morgen von ihr beklaut zu werden.
Eine andere (nebenher laufende) Geschichte zeigt ein unverhofft zu Geld gekommenes,
obdachloses Pärchen, das, auf der Suche nach einem Hotel für eine
Nacht, an der kalten Realität zu scheitern droht, um am Ende die ersehnte
Übernachtung doch noch zu finden. Ein alternder Angestellter wartet am
Flughafen vergeblich auf die Ankunft einer japanischen Geschäftsfrau und
trifft dort auf einen einsamen schwarzen Jungen aus Angola, den er zunächst
zu Unrecht verdächtigt, seine Brieftasche gestohlen zu haben. Von Skrupeln
gepackt, nimmt er den Jungen widerwillig auf, um für eine Nacht sein Beschützer
zu werden. Der zu spät gekommene Mann, der den kleinen Jungen abholen sollte,
landet bei einer ostdeutschen Imbissverkäuferin, die sich zusammen mit
ihm die Fremdheit der großen Stadt teilt und so Sympathie füreinander
gewinnen. Eine jugendliche No-Future-Clique zieht klauend durch die Straßen,
um am Ende das Diebesgut, den Wagen des Angestellten, in Flammen aufgehen zu
lassen. Die Geschichten, die nicht ineinander aufgehen, eint ein fiktiver Papstbesuch
in Berlin, der alle Beteiligten nur am Rande zu berühren scheint. Mit der
Handkamera gefilmt verfolgt der Streifen das Treiben seiner Figuren. Und ganz
leise hängt man sich, je länger der Film dauert, an die Charaktere
und bemerkt an sich selbst eine merkwürdige Wandlung. In den kalten nassen
Straßen Berlins verbindet alle Akteure ihr gestrandetes Dasein, dass sie
weder verleugnen noch Schönreden. Deprimiert und doch alle auf der Suche
nach ihrem kleinen persönlichen Glück, für das sie Dankbarkeit
entwickeln. Jede Figur ist Haupt- und Nebendarsteller zugleich. Jede Geschichte
könnte einen ganzen Films erzählen. Nachtgestalten vereint Detailverliebtheit
mit einem hohen Potential an Authentizität und Kurzweiligkeit. Eine Episode
wird durch einen Schwenk mit der Kamera zu einer anderen, in der sich die Figuren
der anderen Geschichte befinden, abgelöst. Ohne aufdringlich zu werden,
erzeugt dies den Eindruck von Beiläufigkeit und Nähe. Zu verdanken
auch Schauspielern, die der Geschichte ihre Seele geben. Zum einen Michael Gwisdek
(Peschke), der für seine Rolle den Silbernen Bären erhielt, zum anderen
Meriam Abbas (Hanna) und Dominique Horwitz (Victor), die auf den nicht mehr
geglaubten Höhepunkt ihres Glücks zwischen Baulärm und der vor
der Tür stehenden Hotelbesitzerin ihre Liebe feiern. Die glänzend
inszenierte Erotik zwischen den Obdachlosen zeigt die Absurdität des Klischees,
indem sie ihm gerade widerspricht. Oder das drogenabhängige Strichmädchen
Patty (Susanne Bormann), penetrant bei ihren Entzugserscheinung gefilmt, entzieht
sie sich den Blicken des Zuschauers, indem sie die Tür erregt zuschlägt.
Sicher zwei der Schlüsselszenen, die das Spiel mit den Konventionen belegen
und zugleich Distanz fordern. Andreas Dresen liebt seine Charaktere. Ohne Zweifel
werden so die Klischee-Vorwürfe entkräftet (ohne aber beseitigt zu
werden). Merkwürdigerweise kann man dann auch die konstruierten Sentimentalitäten
verzeihen. Es scheint sogar, als würde Dresen mit den Klischees spielen,
jedenfalls ist er sich ihrer bewusst. Der Blick in die Kamera am Ende des Films
ist symptomatisch: Einerseits wird der Ball dem Zuschauer zurückgeworfen
und verweist auf dessen eigene jämmerliche Existenz, andererseits weist
er auf die unverhohlene Tatsache, dass es sich nur um einen Film handelt. Die
Distanz zu sich selbst, untrüglich die Stärke des Films, wird erreicht
durch die Kameraführung. So umstritten Dogma 95 auch ist: Die Elemente,
insbesondere die Kameraführung und der Schnitt, schwappen auf die deutsche
Filmszene über (oder vielleicht spiegelt Dogma umgekehrt nur eine Entwicklung
zugespitzt wider). Egal ob in Frankreich Lovers, in Amerika The Blair Witch
Projekt oder Dresens Nachtgestalten. Es tut sich was am Kinohimmel.
Nachtgestalten (D 1999) Regie/Buch: Andres Dresen, Kamera: Andreas Höfer, Darst.: Meriam Abbas, Dominique Horwitz, Oliver Bäßler, Susanne Bormann, Michael Gwisdek, Ricardo Valentin u.a. Länge:103 Min., Verleih: MFA.
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